Grüne Verfahrenstechnik für Medikamente

14.02.2020 -  

 

Sie ist klein, unscheinbar und graubraun – die Mücke der Gattung Anopheles. Dennoch ist sie ausgesprochen gefährlich, weil sie eine der bedrohlichsten parasitären Krankheiten, die Malaria, überträgt. Obwohl die Erkrankung gut therapierbar ist, sterben laut Weltgesundheitsorganisation jährlich weltweit mehr als 450.000 Menschen an den Folgen dieser Infektion, vor allem in Afrika und Indien. Dort sind für viele Menschen Malaria-Medikamente unerschwinglich. Das könnte sich jedoch bald ändern.

Denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Magdeburg und Potsdam können inzwischen durch verbesserte chemische Verfahren größere Mengen des Anti-Malaria-Wirkstoffs Artemisinin aus der Beifuß-Pflanze Qinghai (Artemisua Annua) gewinnen. Bislang beträgt die Ausbeute des Wirkstoffs, den die Pflanze zur Abwehr ihrer Fressfeinde bildet, kaum mehr als ein Prozent der Pflanzentrockenmasse. Das macht die Medikamente sehr teuer. Die Verfahrenstechnikerin Susann Triemer konnte mit ihrer Forschung nachweisen, dass aus dem bisher nicht genutzten Abfall der Extraktion mittels des grünen Pflanzenfarbstoffs Chlorophyll in sehr kurzer Zeit sehr effizient mehr Artemisinin synthetisiert werden kann. Versuche im Labor belegen eine erhöhte Wirkstoffausbeute.

Die Doktorandin forscht am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Andreas Seidel-Morgenstern. Der Inhaber des Lehrstuhls für Chemische Verfahrenstechnik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gehört nach einer Wahl der britischen Zeitschrift „Medicine Maker“ zu den zur Zeit weltweit führenden Forschern auf dem Gebiet der Medikamentenherstellung. Der Wissenschaftler untersucht neuartige Technologien, um alle für die Herstellung erforderlichen Teilschritte kontinuierlich durchführen zu können. „Bisher ist es üblich, Arzneimittel, Feinchemikalien, Pflanzenschutzmittel oder auch Kosmetika chargenweise, also in segmentierten individuellen Schritten, zu produzieren, die absatzweise nacheinander abgearbeitet werden“, erläutert Andreas Seidel-Morgenstern.

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Prof. Dr.-Ing. Andreas Seidel-Morgenstern (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Die Rohstoffe und Produkte durchliefen dabei mehrere Reaktoren und Trennapparate und verblieben jeweils so lange darin, bis die spezifische Aufgabe ausreichend erfüllt sei und der nächste Produktionsschritt folgen könne. Dabei komme es im Laufe des sequentiellen Herstellungsprozesses immer wieder zu Unterbrechungen, um Übergänge zwischen Apparaten zu realisieren, Reinigungsschritte durchzuführen und die jeweiligen Betriebspunkte zu erreichen, führt der Verfahrenstechniker aus. „Eine gleichbleibende Qualität der einzelnen Chargen ist mit diesem Produktionsverfahren nicht einfach sicherzustellen. Wir haben nun für mehrere Beispielprodukte einen unterbrechungsfreien Herstellungsprozess erreicht, in dem die Arbeitsschritte ineinander übergehen und die Produktion integriert und kontinuierlich in einer Gesamtanlage abläuft. Dieses vorgegebene Regime sichert eine gleichbleibend hohe Qualität des Endprodukts.“ Die neuen Verfahren seien darüber hinaus wesentlich produktiver, preiswerter und benötigen kleinere Apparate. Auch arbeiteten sie präziser und seien weniger störanfällig, was die neue Technologie vor allem für Entwicklungsländer interessant mache.

Neue Trennverfahren für höhere Qualität

Die Grundvoraussetzung für einen kontinuierlichen Produktionsprozess ist, ausreichend aufgereinigte Stoffe in die jeweils nächste Stufe zu überführen. Dafür sind hochselektive Trennverfahren erforderlich, in denen miteinander vermischte Stoffe, z. B. nicht umgesetzte Rohstoffe oder Produkte chemischer Zwischenreaktionen, voneinander getrennt werden. Das Trennen von Stoffgemischen gehört zu den wichtigsten verfahrenstechnischen Grundoperationen und steht im Fokus der Arbeit von Professor Seidel-Morgenstern und seines internationalen Teams. Im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Projektes CORE – Continuous Resolution and Deracemization of Chiral Compounds by Crystallization entwickeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut Magdeburg seit zwei Jahren neue Verfahren zur Herstellung von Arzneimitteln.

Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland sowie global agierenden Industriepartnern möchten sie industriell verwertbare Verfahren zur Trennung von speziellen Molekülen, so genannten Enantiomeren, entwerfen. Enantiomere sind paarweise auftretende Moleküle. „Man kann sie sich wie unsere beiden spiegelbildlich zueinander aufgebauten Hände vorstellen“, verdeutlicht Professor Seidel-Morgenstern.

„Aufgrund der durch sie verursachten gegenläufigen Verdrehung der Schwingungsebene von linear polarisiertem Licht lassen sich die beiden verschiedenen Enantiomere in einem Polarimeter nachweisen. Zucker und Aminosäuren werde so in (D)- und (L)-Enantiomere unterschieden, von laevus und dexter für links und rechts“, so der Verfahrenstechniker weiter. „Weil die lebende Materie auf unserem Planeten nur aus einer Sorte der beiden Aminosäuren, den L-Aminosäuren, aufgebaut ist, und deshalb Lebewesen zwei durch Nahrung oder als Medikament aufgenommene unterschiedliche Enantiomere unterschieden können, ist die Bereitstellung enantiomerenreiner Substanzen von großer Bedeutung für die pharmazeutische Industrie, die Lebensmittelindustrie und zunehmend auch für die Agrochemie. Ihre außerordentliche Ähnlichkeit macht die Trennung von Enantiomeren jedoch ausgesprochen schwierig.“

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Jacqueline Kaufmann befüllt im Labor des Max-Planck-Instituts den Extraktor zur Gewinnung von Artemisinin mit getrockneten Blättern des Einjährigen Beifußes. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Wie wichtig die Bereitstellung von hochreinen Enantiomeren vor allem im Pharmabereich ist, wird am Schlaf- und Beruhigungsmittel „Contergan“ deutlich. In den 1960er Jahren wurde dieses Medikament schwangeren Frauen verabreicht. Es enthielt als Wirkstoff gleichzeitig beide spiegelbildlichen Formen des Wirkstoffmoleküls Thalidomid. Die beiden Enantiomere in einem Arzneimittel wie „Contergan“, können unterschiedliche Wirkungen hervorrufen. Meist weist dabei nur ein Enantiomer die gewünschte Eigenschaft auf, während das Spiegelbild entweder neutral ist oder negative Auswirkungen haben kann. Wirkte die eine Form des Thalidomid-Moleküls im „Contergan“ beruhigend, verursachte die andere Form schwerste Missbildungen bei zahlreichen Neugeborenen.

Das CORE-Projekt

Im CORE-Projekt sollen nun Möglichkeiten gefunden werden, Gemische von Enantiomerenpaaren effizient zu trennen und dabei zusätzlich das in der Regel ebenfalls wertvolle, aber unerwünschte Gegen-Enantiomer ressourcenschonend in den Herstellungsprozess zurückzuführen.

Die Palette möglicher Verfahren, Reaktionsprodukte abzutrennen und dabei ungenutzte Roh- oder Hilfsstoffe wie Katalysatoren zurückzuführen, ist breit. Die Magdeburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konzentrieren sich gegenwärtig besonders auf die sehr wirksame Kristallisation. Dabei geht es vor allem darum, zunächst durch neue Messmethoden die notwendigen Löslichkeitsdaten zu ermitteln, um anschließend kontinuierlich arbeitende Prozessprinzipien zu entwickeln, also herauszufinden, welche Stellschrauben – Temperatur, Druck, Art und Menge von Hilfsstoffen – im Produktionsprozess wie zu verändern sind, um letztendlich den Betriebspunkt zu finden, in dem das System optimal funktioniert.

Nach der politischen Wende in Deutschland ergab sich für Andreas Seidel-Morgenstern die Möglichkeit, sich als PostDoc an der University of Tennessee, Knoxville, USA, mit damals noch wenig erforschten Verfahren zur Enantiomerentrennung zu beschäftigen. Als er nach der Habilitation an der TU Berlin nach Magdeburg kam, wurde hier von seiner Arbeitsgruppe zunächst vorwiegend die chromatographische Trennung von Enantiomeren untersucht. In der Chromatographie werden, ähnlich wie vielfältiges Treibgut in einem Fluss, die einzelnen Substanzen eines Stoffgemisches unterschiedlich schnell über eine stationäre Phase wie über ein Flussbett bewegt. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeiten werden die einzelnen Substanzen so voneinander getrennt.

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Getrockneter Einjähriger Beifuß (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Als ab 1998 das Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme unter der Leitung von Prof. Dr. Ernst-Dieter Gilles in Magdeburg aufgebaut wurde, ermöglichten die dort entstandenen Ressourcen und die enge Kooperation mit der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg dem Wissenschaftler, die Kristallisation als hochselektives Trennverfahren für Enantiomere intensiv zu erforschen. Diese Möglichkeit zu freien und unabhängigen Forschung effektiv nutzend, hat die Arbeitsgruppe von Andreas Seidel-Morgenstern inzwischen auf diesem Forschungsgebiet in der international scientific community ein erhebliches Wörtchen mitzureden.

Ihre Expertise auf dem Gebiet der Trenntechnik bringen die Magdeburger Forscherinnen und Forscher gegenwärtig auch in das europäische Kooperationsprojekt UNRAVEL A Unique Refinery Approach to Valorise European Lignocellulosics ein. Sie wollen im Verbund die sogenannte Biomasse der zweiten Generation, also organische Abfälle, effizient aufschließen und nutzen. Hierbei gilt es, gleichermaßen nachhaltige wie wettbewerbsfähige Biomasse einzusetzen, die nicht mit der Flächennutzung für die Nahrungsmittelproduktion konkurriert. Reststoffe und Abfallprodukte aus der Forst- und Landwirtschaft wie Holz, Rinde, Stroh oder Nussschalen eröffnen dabei vielversprechende Forschungsansätze. Vor allem das im Holz enthaltene makromolekulare Lignin könnte künftig als Baustein für hochwertige biobasierte Materialien zum Einsatz kommen, u. a. in Bio-Polymeren und Isolierschäumen. Professor Seidel-Morgenstern und sein Team entwickeln effiziente Aufarbeitungsprozesse, um Lignin aus beim Holzaufschluss entstehenden Kochlaugen abzutrennen.

Auch im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs TR 63 InPROMPT: Integrierte chemische Prozesse in flüssigen Mehrphasensystemen geht es der Arbeitsgruppe um Andreas Seidel-Morgenstern um die nachhaltige Herstellung chemischer Produkte. Grüne Chemie und Verfahrenstechnik sind die Stichworte und im Fokus stehen biobasierte Rohstoffe, hoch selektiv wirkende Katalysatoren, unbedenkliche Lösungsmittel, Energieeffizienz sowie optimierte Produktionsprozesse. Andreas Seidel-Morgenstern führt in seinen Forschungsvorhaben Spitzenforscherinnen und -forscher aus ganz Deutschland und Europa zusammen. Auf seinem Spezialgebiet, der kontinuierlichen Enantiomerentrennung, hat er sich mit seiner Gruppe kein geringeres Ziel gesetzt als „weltweit Vorreiter zu sein“.

Wussten Sie schon, dass...

  • ...der Einjährige Beifuß (Artemisia annua) eine krautige Pflanze mit einer Höhe von 50 bis 150 cm und über 200 Arten ist und nicht zu verwechseln ist mit dem in Mitteleuropa vorkommenden Ackerunkraut Gemeiner Beifuß (Artemisia vulgaris). Sein Verbreitungsgebiet erstreckt sich von China über den Irak bis nach Südosteuropa. Er bildet zur Abwehr von Fressfeinden in Blättern und Blüten den Pflanzenstoff Artemisinin. Dieser wird in der traditionellen chinesischen Medizin seit über 2000 Jahren erfolgreich für die Behandlung von Fieber und Erkältungen eingesetzt. Die chinesische Pharmakologin Youyou Tu isolierte Artemisinin 1971 zum ersten Mal und wurde dafür 2015 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet. Artemisinin ist inzwischen auch in den Fokus der Krebsforschung gerückt.

  • ...sich Lignin vom lateinischen Lignum – Holz – ableitet und Pflanzen ihre Form und Stabilität verleiht? Er wird in die pflanzliche Zellwand eingelagert und bewirkt die Verholzung der Zelle, die sogenannte Lignifizierung. Weltweit fallen jährlich rund 50 Millionen Tonnen Lignin als Abfallprodukt, sogenannte Schwarzlauge, in der Papierindustrie an. Das energiereiche Lignin in der Lauge wird bislang ausschließlich energetisch genutzt, um Strom für die Zellstoff- und Papierproduktion zu erzeugen. Ein Problem dabei war lange der hohe Schwefelgehalt der Schwarzlauge. Der Schwefel griff nicht nur die Ausrüstungen an, er wurde auch in die Atmosphäre abgegeben und in umweltschädliches Schwefeldioxid umgewandelt. Auch wenn dieses Problem inzwischen gelöst ist, kann Lignin doch viel mehr als nur Brennstoff zu sein.

von Ines Perl

Letzte Änderung: 10.11.2021 - Ansprechpartner: Webmaster